Der Nil
Der Nil, der Lebensader in Ägypten. Ohne Wasser kein Leben. Geschichte und Zivilisation des längsten Flusses der Erde.
Der Nil
Ohne Wasser kein Leben
von Dr. Ahmed El-Ashker
Herodot sagte: (Ägypten ist ein Geschenk des Nil), die Ägypter heute sagen: (wer den Nil einmal gesehen hat, der kommt bestimmt nochmal wieder). Beide Aussagen haben sich immer wieder bewahrheitet. Ein vom Nil begeisterter Ägypter erzählt.
Mein Elternhaus in Kairo liegt rund 200 Meter vom Nil entfernt. Der Nil war für uns - Kinder und Erwachsene - Lebens-, Arbeits- und auch Vergnügungsplatz. Entlang der Nilufer finden wir zu jeder Zeit, Tag und Nacht, alles was man sich vorstellen kann; alles was diesen Fluss von allen anderen Flüssen der Welt unterscheidet. So trifft man viele Spaziergänger, die frische Luft suchen. Man findet unzählige, bunte Verkaufsstände, die alles feilbieten, was der Mensch nur braucht: Esswaren, Sandwiches, warme und kalte Getränke, Bücher, Bilder, kleine Geschenkartikel, Haushaltswaren, Teppich und gar grosse Möbelstücke.
Alles könnte man hier kaufen, und für mich war es immer eine grosse Freude, wenn ich mit meinen Eltern dem Nil entlang spazieren und mein Lieblingsgetränk (Homos El Sham) mit Paprika bekommen durfte. Nicht nur Geschichte und Geschäfte, sondern auch die Romantik hat an den Nilufern Platz. Wenn in der Nacht das Mondlicht vom Himmel scheint und sich zusammen mit Lichtern der Grossstadt in den Wassern spiegelt, fühlt man eine bezaubarende romantische Atmosphäre. Viele junge und junggebliebene Paare bummeln Hand in Hand, Schulter an Schulter und geniessen diese Nilromantik. Von den zahlreichen Marmorsitzbänken entlang des Nil hört man oft Liebesgeflüster, Lieder und ernste bis heitere Gespräche - wenn es die Dunkelheit erlaubt, wird auch einmal ein Kuss ausgetauscht.
Ja, am Nil lernt man die ersten Liebes- und Lebenslektion. Von Asswan bis Alexandria - auch in Kairo - trifft man an beiden Ufern des Nil grosse grüne Felder neben gigantischen, modernen Fabriken. Von diesen Feldern leben tausende, und von den Fabriken hunderttausende von Ägyptern. Alle verdanken dem Nil ihr Leben und ihre Existenz. Der Nil ist die wichtigste Lebensader für Ägypten und die Ägypter.
Der Nil, ein Geschenk
Die Geschichte des Nils ist voller Romantik und Kontraste. Er bietet, was kein anderer Fluss bieten kann, hier prallen alte pharaonische und moderne, technische Zeiten auf einander. Nirgendwo auf der Welt erscheinen diese Bilder so klar und farbig. Die Menschen entlang des Nils haben sich lange gegen Einflüsse von Aussen zur Wehr gesetzt, darum bleiben auch viele alte Traditionen bis zur heutigen Zeit bewahrt. Am Nil wirkt die Vergangenheit in die alltägliche Gegenwart hinein. Der bekannte Schriftsteller Herodot reiste im 5. Jahrhundert vor Christi Geburt bis zum ersten Katharakt bei Asswan und beschrieb bei seiner Rückkehr Ägypten als Geschenk dieses Flusses. In Wahrheit ist nicht nur Ägypten, sondern der ganze Nahe Osten ein Geschenk des Nils. Er sorgt für Überleben und Frieden der ganzen Region.
Die Flut
Der Nil ist ein Wunder und der König aller Flüsse, sagte der bekannte arabische Geograph El Masudi im Jahr 941. Vom Nil in Ägypten wusste er: (Der Nil ist ein Wunder. * Drei Monate im Jahr (Juli, August, September) ist das Land an seinen Ufern eine silbrige schimmernde Perle, wenn es von der Flut des Flusses überschwemmt ist. *Drei Monate im Jahr (Oktober, November, Dezember ) ist das Land ein schwarzer Moschus, wenn das Wasser in sein Flussbett zurückkehrt, und einen schwarzen Boden hinterlässt, in den die Bauern die Saat legen. Dieser Erdboden duftet wie ein Moschus. *Drei Monate (Januar, Februar, März ) ist das Land ein dunkler Smaragd, wenn überall die Gräser spriessen, die Pflanzen der Felder und die Blätter der Bäume den Glanz dieses Edelsteins hervorzaubern. *In den letzten drei Monaten (April, Mai, Juni ) ist das Land ein Barren roten Goldes, wenn die Saat reift und die grösseren Pflanzen und die Blätter der Bäume eine rötliche Färbung annehmen.) Auf diese Flut, deren Auswirkung El Masudi so prächtig beschrieb, wartet man heute vergeblich, denn durch den Bau der Hochdämme (El Sad El Ali und Asswan High Dam) wurde dieses einmalige, lebensspendende Phänomen gestoppt - das überschüssige Wasser verbleibt im grossen, künstlichen See (Nasser-See). Als kleine Kinder haben wir unter der Flut gelitten. Während der Flutzeit bekamen viele Kinder ein einzigartiges Ekzem (Homo El Nil) mit kleinen, roten Pickeln auf dem ganzen Körper. Nach ein Paar Tage waren diese dann wieder verschwunden. Heute leidet der Erdboden in Ägypten, denn die Flut brachte reiche Erde mit sich, und bildete so einen wunderbaren Dünger, um aus Sand Kulturland werden zu lassen.
Der Nil, Platz der Geschichte
Das Bewusstsein der langen Geschichte der Nilvölker in Ägypten gab den Politikern das Gefühl der Gelassenheit, weil Ägypten schon früher als irgend ein Land im Nahen Osten, villeicht gar auf der ganzen Welt, Gott verehrt hat. Der Klang der frühen Geschichten, pharaonische, jüdische, christliche und islamische ist gemalt worden am Nil. An den Ufern des Nils gab es immer wieder kulturelle Revolutionen; von Eroberung durch Fremde zum Zerfall und einem neuen Anfang. Die Wiege vieler Zivilisationen stand im Laufe der Jahrtausende immer wieder am Nil. Zahllose Zeugen aus den vergangenen Zeiten sind heute noch zu bewundern. Vorwiegend aus pharaonischer Zeit sind gigantische Bauten, wie Tempel und Grabmalerei, zu bewundern. Einer der wichtigsten Tempel, die durch den Rückstau der Nilwasser mit dem neuen Hochdamm gefährdet war, ist der Tempel von Abu Simbel, der deshalb 180 Meter oberhalb seines ursprünglichen Platzes wieder aufgebaut wurde. In Blöcke von rund 30 Tonnen zersägt wurde er an den Ort transportiert und dort wieder aufgebaut, wo er heute zu bewundern ist.
Ein weiterer wichtiger Tempel ist der von Philae, etwas oberhalb von Asswan gelegen. Diese Perle des Nil war ein Zentrum der Verehrung von Osiris, dem Gott der Frucktbarkeit und der Wiedegeburt, des Nils selber, sowie seiner Gattin Isis.
Die Geschichte des Nil
Der Nil ist der längste, vitalste, unabhängigste und mächtigste Strom der Erde. Seine Gesamtlänge beträgt rund 6700 Kilometer von seinen Quellen in den Bergen Zentralafrikas bis zum Delta am Mittelmeer. Dabei beschreibt er einen Bogen von etwa 35 Grad, was einem Zehntel des über die Pole gemessenen Erdkreises entspricht. Sein Einzugsgebiet umfasst etwa 3 Millionen Quadratkilometer, dies ist etwa ein Zehntel der Gesamtfläche Afrikas (ein Drittel der Fläche der USA ).
Alleine in Ägypten hat der Nil eine Länge von über 1000 Killometern.
Das Leben von zahlreichen Völkern in Afrika hängt direkt oder indirekt vom Nil ab.
Ägypten selber würde ohne den Nil nicht existieren, höchstens ein paar Nomadengruppen fänden ihr Auskommen in der unermesslichen Weite der Wüste. Die Quellen des Nils sind unerschöpflich. Auf seiner Langen Reise durch die Wüste verdunstet rund die Hälfte seines Wassers. Trotzdem lässt er immer noch jede Sekunde einige Millionen Liter Wasser in das Mittelmeer rauschen.
Der Nil in Ägypten besteht eigentlich aus dem Zusammenfluss zweier Arme. Der grössere Hauptarm ist der weisse Nil, der seine Wasser aus den drei grossen Afrikanischen Seen bezieht (Viktoria-, Kyoga- und Albertsee). Der blaue Nil entstammt dem Tanasee in Äthyopien.
Die Erforschung des Nils und seiner Quellen begann gegen Ende des 5. Jahrhunderts vor Christi, wie Herodot berichtet.
Der Pharao Necho erteilte den Auftrag, den Nil mittels mehrer durch erfahrene Seeleute bemannter Segelschiffe zu erforschen. Drei Monate später kehrten sie von ihrem Ausflug Richtung Süden zurück und berichteten, sie seien am Anfang in die Richtung gefahren, dass die Sonne zur linken Seite aufgegangen sei (Richtung Süden). Eines Tages aber sei dann die Sonne auf der rechten Seite des Schiffs aufgegangen. Ohne Zweifel kannten die Ägypter den Lauf des Nils vom Mittelmeer bis nach Karthum im Sudan. Asswan war schon damals ein Marktort, wo die alten Ägypter ihre Waren und Produkte (Honig, Salben, Perlen, Stoffe...) gegen Elfenbein, Gold, Silber und andere Edelsteine eintauschten.
Wasser aus Feuer und Eis
Die Quellen des Nilwassers liegen, so schrieb Ptholemeus im zweiten Jahrhundert der christlichen Zeit, in den nebelverhangenen Schneebergen. Er nannte sie Monberge. Rund siebenhundert Jahre vergingen, bis der nächste Bericht über den schneeverhangenen Kilimandscharo erschien. Heute weiss man, dass der Nil seine Wasser von den drei Gebirgen Mount Kenia, Kilimandscharo und Ruvendzori erhält. Tatsächlich, das die weiten Wüsten fruchtbar machende Nilwasser stammt vom Schnee, der einst auf Afrikas Äquator gefallen ist. Es ist ein Wunder und eine mystische Strahlung, dass Schnee auf Afrikas Äquatorgegend fällt; was Andernorts, wie etwa bei uns in Europa, eine Selbverständlichkeit ist. Aber das ist eine andere Geschichte.